Dorfanger

Wie sah Tempelhof als Dorf eigentlich aus? Kaum jemand ahnt, dass der Grünstreifen in Alt-Tempelhof noch aufs Mittelalter zurückgeht. Hier ist der historische Dorfanger erhalten geblieben, während sich die Umgebung im Laufe der Zeit stetig verändert hat.

„Hier sieht man die Entwicklung
der Verstädterung“

 

Vom Dorfanger zur Mietskaserne: Siegmund Kroll leitete lange das Stadtentwicklungsamt im Stadtteil. Er erklärt anhand von Gebäuden, wie sich das Dorf zu einem Teil von Berlin entwickelt hat. Welche architektonischen Besonderheiten entstanden, gingen verloren und wurden wiederentdeckt?

Spuren des alten Dorfes

Zentrum des Dorflebens

An der Ecke Alt-Tempelhof / Tempelhofer Damm trifft das heutige Berlin auf seine mittelalterlichen Spuren. Der langgezogene Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen ist der ehemalige Dorfanger, das alte Zentrum des Ortes. In Schöneberg, Marienfelde, Mariendorf oder Lichtenrade kann man ebenfalls bis heute die alten Dorfanger entdecken. In Tempelhof wird der Anger von Fahrwegen gesäumt. Die Häuser und Höfe der ehemaligen Bauernfamilien ordneten sich entlang der Wege rund um den Anger an. Die einfachen strohgedeckten Bauten waren aus Fachwerk. Die dazugehörigen Felder grenzten an die Grundstücke an. Sie wurden damals in der Maßeinheit „Hufe“ gemessen.

Bäuerlicher Alltag

Eine „Hufe“ entsprach der Feldgröße, die mit einem Pflug von einer Bauernfamilie bewirtschaftet werden konnte. Das Leben der Bauernfamilien im Mittelalter war anstrengend: Die bestellten Flächen gehörten ihnen meist nicht selbst, für sie mussten hohe Abgaben und Pacht an die Gutsfamilien des nahegelegenen Rittergutes Tempelhof bezahlt werden. Die Felder wurden damals in Dreifelderwirtschaft betrieben: Je ein Feld für Sommer- und Wintergetreide und eines für Brachland. Nur ein kleiner Teil der Bauernfamilien besaß eigenes Land. Als Grundbesitzer standen sie mit ihrer Familie an der Spitze der strengen Gesellschaftsordnung der Dorfgemeinschaft. Es gab Bauernfamilien, die eine ganze Hufe bewirtschaften, danach folgten solche mit Dreiviertel-, Halb- und Viertelhufe. Sogenannte Kossäten besaßen nur Gärten für Obst und Gemüse. Um die Rechtsprechung kümmerte sich im Dorf der Schulze: Die Lehnschulzen waren bis 1750 die Gemeindeobersten. Das Amt wurde innerhalb der Familie weitergegeben: Der älteste Sohn erhielt neben dem Hof auch die Aufgabe, Streit in der Bevölkerung zu schlichten oder Recht zu sprechen. Dies geschah sonntags nach dem Gottesdienst in der Dorfkirche. Von den Geldstrafen durfte der Lehnschulze einen Teil behalten, jeder dritte Pfennig ging an ihn und seine Familie. Der sogenannte „Lehnschulzenhof“ mit dem Dorfgericht befindet sich an der heutigen Ecke Alt-Tempelhof/Tempelhofer Damm. Seine Ackerflächen grenzten im Süden an die Dorfkirche. 1751 siedelte sich der Unternehmer Vierhuff auf dem Hof an und brachte die erste Fabrik nach Tempelhof: eine Seidenspinnerei. Bereits 1663 pflanzten Hugenotten Maulbeerbäume in Berlin, um die Seidenproduktion in Preußen voranzutreiben. Rohseide wird aus den Kokons der Seidenspinnerraupe gewonnen, die sich auf den Blättern der Maulbeerbäume verpuppt. Vierhuff folgte mit seiner Fabrik einem preußischen Trend des 18. Jahrhunderts unter König Friedrich Wilhelm I. Dieser forderte Bauern, Lehrer und Arbeiter auf, Maulbeerbäume zu pflanzen und Seide herzustellen. Er erhoffte sich, China und Japan Konkurrenz zu machen. Vierhuff war mit seinem Plan jedoch wenig erfolgreich. 1901 kaufte Wilhelm Lehne das Grundstück für seinen Sohn, der die dortige Gaststätte „Helwig“ weiterführte.

 

Vom Dorf zur Stadt

Ab 1800 setzte ein Wandel ein: Wohlhabende und Adlige spekulierten mit Land und kauften sich in das Gebiet ein. Tempelhofs dörflicher Charakter veränderte sich zusehends. Auch einige der Tempelhofer Bauernfamilien erlangten Wohlstand. Sie verkauften ihre Felder auf dem heutigen Tempelhofer Feld als Übungs- und Paradefläche an das preußische Militär. Seit 1722 nutzten Soldaten die Landwirtschaftsflächen. Für die entstandenen Schäden zahlte Friedrich Wilhelm I. jährlich bis zu 2000 Taler an die Bauernfamilien in Tempelhof. Zum Vergleich: Eine fünfköpfige Familie brauchte um 1850 ungefähr 3,5 Taler, um ihre Wochenkosten zu decken. Doch die verhältnismäßig hohe Summe war nicht genug als Entschädigung für die Ernteausfälle. 1827 verkaufte die Gemeinde Tempelhof schließlich einen Großteil der Felder endgültig an Preußen. Berlin rückte in der Zwischenzeit näher an Tempelhof heran. Die „Tempelhofer Vorstadt“ zwischen Halleschem Tor und dem heutigen Tempelhofer Feld wuchs zur Gründerzeit rasant. 1920 wurde das Dorf Tempelhof komplett eingemeindet. Im Rahmen des Reformgesetzes gehörte es nun zu Groß-Berlin.