Wo wurde in Tempelhof getanzt? Das Dorf Tempelhof war ein beliebtes Ausflugsziel für die Städter. Sie kamen „aus der Stadt“ zum Vergnügen in die zahlreichen Lokale. Als Erinnerung schickten sie schon mal eine Postkarte nach Mitte!
„Mitte der 1920er Jahre und es ist Wochenende…“
Amüsement in Tempelhof: Eventmanagerin Else Edelstahl und Autor Arne Krasting nehmen uns mit auf eine Zeitreise zu den Ausflugslokalen im Tempelhof vor 100 Jahren, wo Ballsäle, Kinematographen, Kegelbahnen und Badeanstalten die Amüsierlustigen aus Berlin anlockten.
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„Einen schönen guten Tag allerseits. Wir sind Else Edelstahl von der „Boheme Sauvage“ und Arne Karsting von „Zeitreisen“. Zusammen machen wir: „Goldstaub, der Zwanziger-Jahre-Podcast“. Jetzt nehmen wir euch mit auf eine Zeitreise.“
„Wir sind gelandet, mitten in den Zwanzigern. Es ist Wochenende und wir wollen uns ins wilde Nachtleben stürzen. Die Frage ist nur: Wohin verschlägt es uns diesmal?“
„Friedrichstraße? Da ist der Admiralspalast, Wintergarten oder Mokka Efti.“
„Wir könnten auch in den neuen Westen gehen, rund um den Tauentzien und den Ku’damm. Da gibt es den Delphi-Tanzpalast oder die Kakadu-Bar.“
„Ich hätte aber ehrlich gesagt Lust auf was Neues. Mal raus aus diesem anstrengenden Moloch hier. Ein bisschen was mit weniger Tempo.“
„Guck mal, Else. Ich habe hier eine Annonce entdeckt: Restaurant und Kaffee „Zum Kurfürst, ehemals Kreideweiß“.
„Das habe ich schon mal gehört. Tempelhof, oder?“
„Vornehmster Aufenthalt im Süden – Täglich Künstlerkonzert – Freitag Kabarettabend – dazu gute Kurfürsten-Küche“.
„Das klingt doch ganz vielversprechend. Wie kommen wir da hin?“ – Na, mit der Untergrund!“
„Die fährt nicht so weit. Da müssen wir ein ganzes Stück laufen.“
„Vielleicht Elektrische? Die müsste doch von Kreuzberg aus direkt dahin fahren.“
„Wollen wir uns so richtig schick machen? Unsere neueste Abendgarderobe präsentieren?“
„Zieh doch das türkise Kleid mit den Perlenfransen an und dann mach dir deine schönste Wasserwelle.“
„Oh ja! Und um die Augen ganz dunkel geschminkt und den knallroten Lippenstift. Und du ziehst dir deinen adretten Smoking mit dem schmucken Binder an und ordentlich Pomade ins Haar. Aber vielleicht solltest du dich noch mal rasieren vorher.“
„Dein Wunsch ist mir Befehl!“
„Ach, Else. Kannst du nicht dein neuestes Parfum aus Paris auflegen? Wie hieß das noch mal? Chanel Nummer 5?“
„Genau das! Ich bin ja gespannt, was da getanzt wird. Was meinst Du?“
„Na ja, Foxtrott, Walzer auf jeden Fall, Tango bestimmt auch. Vielleicht haben wir ja Glück und es wird auch wilder Jazz gespielt. Ob die neuen Tänze aus Amerika in Tempelhof schon angekommen sind?“
„Vielleicht schon. Dann können wir ja Charleston tanzen.“
„Dann lass uns in die Garderobe verschwinden. In einer Stunde fährt die Elektrische vom Halleschen Tor.“
„Was wissen wir denn über das Etablissement unserer Wahl?“
„Der „Kurfürst“ ist 1912 eröffnet worden. Aber interessant ist ja, dass man auf das „Kreideweiß“ verweist. Also auch in dieser Annonce, die 1924 entstand, sagt man „ehemals Kreideweiß“. Und da sollten wir uns mal fragen: Was war denn das? Kreideweiß?“
„Das war tatsächlich ein sehr beliebtes Etablissement. Oder man könnte sagen, ein Ausflugslokal. Ja, sehr dörflich. Aber das wurde dann immer größer und war wirklich eine bekannte Adresse – mit Festsaal und Programm.“
„Im Grunde so, wie man sich die Häuser der Zeit vorstellt. Es ist ja damals fast an jeder Ecke ein Ballhaus entstanden.“
„Dieser Fleck – heute Alt-Tempelhof Ecke Tempelhofer Damm – ist also schon seit längerem ein gesellschaftlicher Hotspot. Aber dann, Anfang des 20. Jahrhundert, ist das alte „Kreideweiß“ abgerissen worden und es ist was ganz Neues entstanden. Ein großes Gründerzeitgebäude mit einem recht üppigen Vergnügungsangebot.“
„Der Amüsierbetrieb „Zum Kurfürst“ beinhaltete einen großen Ballsaal, ein Restaurant, im Keller noch zwei Kegelbahn, ein Bierkeller und eine Badeanstalt mit verschiedenen Dampfbad- und Massageräumen.“
„Etwas für jeden Geschmack war dabei. Tatsächlich geht diese Geschichte dort weiter. In der Nachkriegszeit gab es dort eine Diskothek.“
„Ja, in den 60er, 70er Jahren das bekannte „Cartoon“. Und heute befindet sich im vorderen Bereich das „Insomnia“, ein hedonistischer Nachtclub.“
„Und das „Insomnia“ steht ja eigentlich für das, was auch in den 20er Jahren gefeiert wurde, nämlich tabulose sexuelle Freiheit, Hedonismus und Toleranz.“
„Warst Du da schon mal da?“ – „Nicht nur einmal!“
„In den Zwanzigern sind ja auch der bekannte Ullstein Verlag und die Ufa Filmstudios in Tempelhof ansässig. Wo hätten denn Journalisten und Filmschaffende abends in Tempelhof sonst noch so ausgehen können?“
„Na, die Mitarbeiter der Traumfabrik könnten sich ja gleich ihre Filme anschauen im „Tivoli“. Das war ein Kinematographie-Theater mit bis zu 700 Sitzplätzen. Natürlich gab es da auch Gastronomie und im Keller sehr beliebt zwei Kegelbahnen.“
„Oder sie sind ins „Tuskulum“ gegangen, das war gegenüber vom „Kreideweiß“ bzw. später „Kurfürsten“ und auch früher ein alter Dorfkrug gewesen, der dann immer populärer wurde und wo auch wilde Feiern stattgefunden haben.“
„Also damals wie heute: Man sieht sich in Tempelhof!“
Ab 1825 fuhren immer mehr Erholungsuchende nach Tempelhof. Zahlreiche Biergärten und Gaststätten entstanden. Das kleine Dorf lockte mit vielen Aktivitäten: Gäste konnten auf den Bauernhöfen Kaffee kochen oder Milch trinken. Schon seit 1800 galten hier lockerere Regeln als in Berlin: Im Dorfkrug durfte bei „Schemels Musikdienstag“ offiziell geraucht werden. In Berlin war das Rauchen auf der Straße damals noch verboten. Die Zahl der Gäste, die es aus Berlins Mitte ins Grüne zog, überstieg im Sommer sogar die der Ortsansässigen. Als Erinnerung an die Besuche im dörflichen Umland verschickten die Gäste Postkarten der Gaststätten. Neben dem berühmten „Kreideweiß“ gab es beispielsweise auch die „Gastwirtschaft Dittner“ auf der Nordseite des Dorfangers und das „Gasthaus Knoll“ an der Ecke Reinhardtstraße/Alte Dorfaue. 1901 eröffnete Wilhelm Lehnes Sohn das Lokal „Helwig“, das direkt gegenüber dem Kreideweiß’schen Haus lag. Weil Lehne selbst oft zu Gast war und in ganz Tempelhof bekannt, nannten die Gäste ihn oft scherzhaft „Vater Lehne“ als Gegenpol zur berühmten Wirtin Auguste „Mutter Kreideweiß“.
An der Stelle des mittelalterlichen Dorfkrugs entstand 1828 die spätere Gaststätte der Familie Kreideweiß direkt am Dorfanger. Der Dorfkrug stand ab 1375 an diesem Standort an der Dorfstraße 13 und vereinte in sich eine Gaststätte und einen Bauernhof. Für das Grundstück mussten die Pächter besondere Abgaben leisten: 1446 kostete die Pacht 6 Groschen und ein Pfund Pfeffer, was für die damalige Zeit eine hohe Summe darstellt. 1748 und 1827 brannten die Nachfolgebauten des Dorfkrugs ab. Ab den 1830er Jahren besaß die Familie Kreideweiß den Grund und führte dort ihren berühmt gewordenen Gasthof. Viele Jahre galt das „Kreideweiß“ als das Ausflugsziel schlechthin. Selbst Kaiser Wilhelm II. und sein Gefolge kehrten dort ein. Um die Besitzerin Auguste „Mutter Kreideweiß“ rankten sich zahlreiche Geschichten und Anekdoten: Sie war für ihre Kochkünste und ihr Durchsetzungsvermögen bekannt. Einem Kellner, der heimlich ein Stück Braten klaute und das Festessen in seiner Jackentasche verstaute, schüttete Mutter Kreideweiß angeblich direkt Bratensoße hinterher.
Um 1900 wird das „Kreideweiß“ zu einem „Etablissement“. Immer mittwochs fand ein Gala-Tag statt. Eine Kegelbahn, ein großer Tanzsaal und ein Vergnügungspark kamen dazu. Zur Jahrhundertwende entstanden zahlreiche Lieder über die Vororte und Ausflugsziele im Berliner Umland. Auch Tempelhof und das „Kreideweiß“ wurden besungen. Eines dieser Lieder stammte aus der Feder von Eugen Philippi, der auch die „Rixdorfer Polka“ verfasste. In seinem Text von „Mittwochs mache ick mir tof“ heißt es: „Mittwochs mache ick mir tof, fahre raus nach Tempelhof. Ob es kalt is oder heiß, schön is et bei Kreidweiß. Ja, da tanzt sich’s angenehm und verkehrt die feinste Creme.“ Doch nicht nur die zahlreichen Gasthöfe zogen Scharen an: Die angrenzende Pferderennbahn im heutigen Mariendorf sorgte sogar für internationale Gäste. Der Verkauf des Tempelhofer Feldes durch die Bauernfamilien an das preußische Militär lockte hochrangige Gäste ins Dorf, darunter Kaiser Wilhelm I., Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke oder Reichskanzler Otto von Bismarck.