Wie sah Tempelhof als Dorf eigentlich aus? Kaum jemand ahnt, dass der Grünstreifen in Alt-Tempelhof noch aufs Mittelalter zurückgeht. Hier ist der historische Dorfanger erhalten geblieben, während sich die Umgebung im Laufe der Zeit stetig verändert hat.
„Hier sieht man die Entwicklung
der Verstädterung“
Vom Dorfanger zur Mietskaserne: Siegmund Kroll leitete lange das Stadtentwicklungsamt im Stadtteil. Er erklärt anhand von Gebäuden, wie sich das Dorf zu einem Teil von Berlin entwickelt hat. Welche architektonischen Besonderheiten entstanden, gingen verloren und wurden wiederentdeckt?
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Mein Name ist Siegmund Kroll.
Ich war seit der Fusion des Bezirks Tempelhof mit dem Bezirk Schöneberg Amtsleiter des Stadtentwicklungsamtes und gleichzeitig Fachbereichsleiter der Denkmalschutzbehörde in Tempelhof-Schöneberg.
Die städtebauliche Situation in Tempelhof ist eine ganz besondere, weil man dort die Entwicklung der Verstädterung vom Dorf hin zu einer vorstädtischen Großstadt nachvollziehen kann und das belegen auch noch etliche Gebäude. Tempelhof ist relativ spät von der Stadterweiterung Berlins tangiert worden. Das lag vor allem daran, weil nördlich von Tempelhof zwischen Berlin und Tempelhof das Tempelhofer Feld lag, das als Militärgelände den Weg nach Süden versperrt hat lange Zeit. Erst als man die Berlin-Kottbusser Chaussee gepflastert hatte – das war so Mitte des 19. Jahrhunderts – setzte ein gewisser Ausflugsverkehr nach Tempelhof ein. Ziel war das Kreideweiß´sche Gasthaus, das später nach dem Ersten Weltkrieg noch mal umgebaut wurde und gastronomisch genutzt wurde. Also diese Tradition gab es eine ganze Weile.
Die Siedlungstätigkeit begann Mitte des 19. Jahrhunderts, da gab es Spekulanten, die das alte Gutsgelände aufgekauft hatten und parzellieren wollten, es aber nie bebauen konnten, weil man zu sehr auf die reichen Berliner abgestellt hatte, die aber dann eher in den Südwesten gezogen sind und nicht nach Tempelhof. Die erste Entwicklung – das ist auch eine Besonderheit – ist eine Siedlungsentwicklung in der Neuen Straße, die man heute auch noch ablesen kann. Das ist quasi eine Straße, die nördlich von Tempelhof abgeht und auf der Gebäude zu finden sind, die in dem damals in Berlin üblichen Renaissancestil gebaut worden sind. Das ist die Neue Straße 12, 14, 16, 18, 20, 22, 24 und 26. Das ist auf jeden Fall wert, einen kleinen Abstecher zu machen, weil das die erste nicht bäuerliche Siedlung ist, die in Tempelhof entstand und damit den Verstädterungsprozess eingeleitet hat. Aber es war eine singuläre Geschichte.
Die Siedlungsentwicklung in Richtung Mietskaserne, wie sie jetzt typisch rund um den Tempelhofer Damm ist, die setzte erst so nach 1905 oder 1906 ein. Auf der anderen Seite gibt es noch drei Relikte des alten Dorfes in der Dorfaue zu sehen. Das sind die alten Bauernhäuser, die Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut wurden. Man muss wissen, dass Anfang des 19. Jahrhunderts die alten Häuser einem Brand zum Opfer fielen. Das waren überwiegend Fachwerkhäuser mit Strohdächern, die natürlich sehr schnell Feuer fingen. Danach hat man mit Ziegeln gebaut.
Die Bauern hatten nun ein bisschen mehr Geld, sodass sie feste verputzte Backsteinhäuser, die Ziegeldächer hatten, bauen konnten. Drei dieser Gebäude sind in Tempelhof noch zu sehen, nämlich auf den Grundstücken 35 und 37 sowie weiter östlich vom Tempelhofer Damm in Alt Tempelhof 10 bis 12. Das sind die einzigen Relikte, die aus der bäuerlichen Zeit übriggeblieben sind, allerdings stark überformt in den nachfolgenden Jahrzehnten. Aber man kann im Grunde genommen diese Bauernhäuser von den Bauern, die zu Wohlstand gekommen sind, schon nachvollziehen – so ähnlich, wie das in Schöneberg an der Dorfaue zu sehen ist.
Interessant ist vielleicht auch noch ein Gebäude, das sich am westlichen Ausgang von Alt-Tempelhof befindet. Das ist ein Gebäude, das von einer Wohnungsgenossenschaft errichtet wurde gegen den Widerstand der Tempelhofer. Und zwar mit der Intention, hier Wohnstätten zu schaffen für die Arbeiter, die im nahe gelegenen Reichsbahnausbesserungswerk Tempelhof und in der Schultheiss-Brauerei gearbeitet haben. Die Tempelhofer wollten nicht unbedingt, dass sich Arbeiter in Tempelhof ansiedeln. Nach langwierigen Verhandlungen ist es dann doch gelungen. Und das ist Alt-Tempelhof 46 und 52. Das ist ein sehr interessantes Gebäude, das die neuen Wohnungsansätze der Genossenschaften widerspiegelt mit anspruchsvoller Architektur und soliden Wohnungen für die Wohnraumversorgung der Arbeiter. Das zieht sich bis in die Borussia Straße und die Stolberger Straße hinein. Ein sehr interessanter Komplex, der diesen Teil der Geschichte darstellt.
[00:05:29] Ein anderes wichtiges Gebäude hatte ich schon erwähnt. An der Stelle, wo die alte Gaststätte „Kreideweiß“ stand, ist dann nach dem Ersten Weltkrieg ein neues Gebäude entstanden, das dann in dem typischen Stil der Gründerzeit viergeschossig mit großem Mansarddach entstanden ist. Das ist sowohl als Wohnhaus als auch als Geschäftshaus und weiterhin auch als Gastronomie genutzt worden. Das kann man auch noch ganz gut erkennen, wenn man vor dem Gebäude steht, das direkt an der Ecke Tempelhof Tempelhofer Damm zu finden ist. Wenn man von der alten Dorfaue rüber schaut, sind riesengroße Fenster im ersten Obergeschoss zu sehen, das sind die alten Festsäle. Das Interessante war, dass diese Festsäle verborgen waren, weil dort bis in die Jahre 2000-2006 Einzelhandel war, der eine Zwischendecke eingezogen hatte. Dann ist der Einzelhandel rausgegangen und die Decke wurde freigelegt und die ganze Schönheit des Gebäudes, die dahinter versteckt war, ist zum Vorschein gekommen. Das macht das Gebäude heute auch besonders interessant in dieser Doppelnutzung Wohnen und Gastronomie.
[00:06:53] Ja, vielleicht noch eine Besonderheit der ersten Siedlungstätigkeit: Ich hatte eben auf die Neue Straße verwiesen, aber es gibt noch ein weiteres Gebäude, das diese Siedlungsentwicklung, die Mitte des 19. Jahrhunderts vorgesehen war, zeigt: Ein zweigeschossige Villengebäude. Das ist das Gebäude Alt Tempelhof 18. Das ist ein schöner Klinkerbau mit Stuckverzierungen, so ein bisschen im Schweizer Stil, wie man ihn ganz häufig auch in den Villenkolonien im Südwesten von Berlin findet, zum Beispiel in Friedenau oder auch in Lichterfelde. Da kann man solche Gebäude dann eben ansehen. Es war eigentlich die Intention der Spekulanten gewesen, ganz Tempelhof mit solchen Siedlungshäusern zu versehen. Das ist auch noch mal ein wichtiger Baustein der Siedlungsentwicklung in diesem Bereich. Vielleicht jetzt weniger unter Denkmalschutz Gesichtspunkten. Aber auch interessant ist ein Gebäude, das direkt daneben zu finden ist: Das ist das „Serumhaus“, das nach 2000 entstanden ist, das die Struktur der Umgebung aufnimmt, von der Dimension aber eine besondere Form von harmonischem Bauen ist auch mit Rundungen, die eigentlich in der Moderne eher untypisch sind. Das ist auch noch mal ein bemerkenswertes Gebäude, das in der neueren Zeit dort entstanden ist.
An der Ecke Alt-Tempelhof / Tempelhofer Damm trifft das heutige Berlin auf seine mittelalterlichen Spuren. Der langgezogene Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen ist der ehemalige Dorfanger, das alte Zentrum des Ortes. In Schöneberg, Marienfelde, Mariendorf oder Lichtenrade kann man ebenfalls bis heute die alten Dorfanger entdecken. In Tempelhof wird der Anger von Fahrwegen gesäumt. Die Häuser und Höfe der ehemaligen Bauernfamilien ordneten sich entlang der Wege rund um den Anger an. Die einfachen strohgedeckten Bauten waren aus Fachwerk. Die dazugehörigen Felder grenzten an die Grundstücke an. Sie wurden damals in der Maßeinheit „Hufe“ gemessen.
Eine „Hufe“ entsprach der Feldgröße, die mit einem Pflug von einer Bauernfamilie bewirtschaftet werden konnte. Das Leben der Bauernfamilien im Mittelalter war anstrengend: Die bestellten Flächen gehörten ihnen meist nicht selbst, für sie mussten hohe Abgaben und Pacht an die Gutsfamilien des nahegelegenen Rittergutes Tempelhof bezahlt werden. Die Felder wurden damals in Dreifelderwirtschaft betrieben: Je ein Feld für Sommer- und Wintergetreide und eines für Brachland. Nur ein kleiner Teil der Bauernfamilien besaß eigenes Land. Als Grundbesitzer standen sie mit ihrer Familie an der Spitze der strengen Gesellschaftsordnung der Dorfgemeinschaft. Es gab Bauernfamilien, die eine ganze Hufe bewirtschaften, danach folgten solche mit Dreiviertel-, Halb- und Viertelhufe. Sogenannte Kossäten besaßen nur Gärten für Obst und Gemüse. Um die Rechtsprechung kümmerte sich im Dorf der Schulze: Die Lehnschulzen waren bis 1750 die Gemeindeobersten. Das Amt wurde innerhalb der Familie weitergegeben: Der älteste Sohn erhielt neben dem Hof auch die Aufgabe, Streit in der Bevölkerung zu schlichten oder Recht zu sprechen. Dies geschah sonntags nach dem Gottesdienst in der Dorfkirche. Von den Geldstrafen durfte der Lehnschulze einen Teil behalten, jeder dritte Pfennig ging an ihn und seine Familie. Der sogenannte „Lehnschulzenhof“ mit dem Dorfgericht befindet sich an der heutigen Ecke Alt-Tempelhof/Tempelhofer Damm. Seine Ackerflächen grenzten im Süden an die Dorfkirche. 1751 siedelte sich der Unternehmer Vierhuff auf dem Hof an und brachte die erste Fabrik nach Tempelhof: eine Seidenspinnerei. Bereits 1663 pflanzten Hugenotten Maulbeerbäume in Berlin, um die Seidenproduktion in Preußen voranzutreiben. Rohseide wird aus den Kokons der Seidenspinnerraupe gewonnen, die sich auf den Blättern der Maulbeerbäume verpuppt. Vierhuff folgte mit seiner Fabrik einem preußischen Trend des 18. Jahrhunderts unter König Friedrich Wilhelm I. Dieser forderte Bauern, Lehrer und Arbeiter auf, Maulbeerbäume zu pflanzen und Seide herzustellen. Er erhoffte sich, China und Japan Konkurrenz zu machen. Vierhuff war mit seinem Plan jedoch wenig erfolgreich. 1901 kaufte Wilhelm Lehne das Grundstück für seinen Sohn, der die dortige Gaststätte „Helwig“ weiterführte.
Ab 1800 setzte ein Wandel ein: Wohlhabende und Adlige spekulierten mit Land und kauften sich in das Gebiet ein. Tempelhofs dörflicher Charakter veränderte sich zusehends. Auch einige der Tempelhofer Bauernfamilien erlangten Wohlstand. Sie verkauften ihre Felder auf dem heutigen Tempelhofer Feld als Übungs- und Paradefläche an das preußische Militär. Seit 1722 nutzten Soldaten die Landwirtschaftsflächen. Für die entstandenen Schäden zahlte Friedrich Wilhelm I. jährlich bis zu 2000 Taler an die Bauernfamilien in Tempelhof. Zum Vergleich: Eine fünfköpfige Familie brauchte um 1850 ungefähr 3,5 Taler, um ihre Wochenkosten zu decken. Doch die verhältnismäßig hohe Summe war nicht genug als Entschädigung für die Ernteausfälle. 1827 verkaufte die Gemeinde Tempelhof schließlich einen Großteil der Felder endgültig an Preußen. Berlin rückte in der Zwischenzeit näher an Tempelhof heran. Die „Tempelhofer Vorstadt“ zwischen Halleschem Tor und dem heutigen Tempelhofer Feld wuchs zur Gründerzeit rasant. 1920 wurde das Dorf Tempelhof komplett eingemeindet. Im Rahmen des Reformgesetzes gehörte es nun zu Groß-Berlin.